Sie bringen Gesundheit unter ihre Leute

Sie bringen Gesundheit unter ihre Leute

In Genf schlägt ein innovatives Modell eine Brücke zwischen Gesundheitsfachleuten und benachteiligten Gemeinschaften. Gespräch mit Tamara Strasser, Bewegungsspezialistin und Projektverantwortliche bei der Genfer Vereinigung «Agents de Santé».

Autor:in

Judith Hunziker

Gesundheitslotsinnen und -lotsen tragen Gesundheitsthemen in ihre Herkunftsgemeinschaften

In südlichen Ländern ist es weit verbreitet, bei uns weniger: das Präventionskonzept der «Community Health Workers», im deutschsprachigen Raum auch bekannt als «Gesundheitslotsinnen und -lotsen». Selbst Mitglieder verletzlicher Gemeinschaften, schlagen diese eine Brücke zwischen Gesundheitsfachkräften und ihrer Herkunftsgemeinschaft – mit dem Ziel, deren Ressourcen und Handlungskompetenz zu stärken. Mit diesem Modell lassen sich auch Menschen erreichen, welche die lokale Sprache nicht sprechen oder nicht vollständig in die gesellschaftlichen Strukturen integriert sind.

Die Vereinigung «Agents de Santé» in Genf hat zwei Ziele: erstens, die Gesundheitskompetenz verletzlicher Gemeinschaften zu stärken und zweitens, soziale Schlüsselfaktoren für Gesundheit wie die gesellschaftliche Integration und Zugehörigkeit zu verbessern. Tamara Strasser ist als Projektverantwortliche für die Vereinigung tätig.

Tamara Strasser, wie kommen Sie zu Ihren Gesundheitslotsinnen und -lotsen (GL)?

Sie müssen gut in ihre Gemeinschaft eingebunden sein, Zeit haben und lernen wollen, wie man Workshops leitet. Ihr Bildungsstand ist unterschiedlich, aber Französischkenntnisse auf Stufe B1 sind Voraussetzung. Wir schätzen ihr Engagement in ihrer Gemeinschaft sehr und suchen auch Personen aus untervertretenen Gruppen. Das Interesse ist gross: Wir erhalten viele Anfragen von Personen, die sich als GL engagieren möchten. Unsere Vereinigung wird in den diversen Gemeinschaften und im Gesundheitswesen immer bekannter. Immer mehr Stellen kennen und schätzen unsere Arbeit.

Was bringt ihr Engagement den Gesundheitslotsinnen und -lotsen selbst?

Die Arbeit der GL wirkt gleich doppelt: Sie kommt nicht nur den Gemeinschaften zugute, sondern auch ihnen selbst, indem sie ihre Integration und Selbstständigkeit verbessert. Indem sie sich für ihre Gemeinschaft einsetzen, erlangen sie neue Fähigkeiten wie die Workshop-Leitung, Planung und Kommunikation. Das alles fördert ihre Eigenständigkeit. Ihr Engagement ist zwar freiwillig, wird jedoch entschädigt. Ausserdem bietet unsere Vereinigung den GL jährliche Fortbildungen an, um den Kontakt zu pflegen und neue Themen einzubringen.

Wie werden die GL ausgebildet?

Das Basistraining dauert 10 Tage und umfasst sechs Workshops zu drei Schwerpunkten:

  • Ernährung: ausgewogene Ernährung, Kochen, budgetbewusste Küche
  • Bewegung: Wie bringe ich mehr Bewegung in den Alltag?
  • Psychische Gesundheit: Umgang mit Stress, Prävention zum Alkoholkonsum

Gesundheitsfachleute stellen die Workshops zusammen, wobei sie Theorie und Praxis verbinden. Danach schulen, begleiten und betreuen sie die GL. Bevor diese einen Workshop leiten können, müssen sie ihn selbst besuchen.

Wie läuft ein solcher Workshop ab?

Jeder Workshop dauert rund zwei Stunden und ist sehr interaktiv, mit Diskussionen, praktischen Übungen und Fallbeispielen. Zum Modul «Budgetbewusste Küche» gehört zum Beispiel ein Besuch in einem Supermarkt. Wir ermitteln, welche hiesigen Produkte jenen der Herkunftsländer entsprechen, wo diese Produkte zu finden sind und welche Varianten es davon gibt. Der Bewegungs-Workshop vermittelt Übungen, für die es keine besondere Ausrüstung braucht. Und der Workshop zur psychischen Gesundheit bietet Techniken zur Stressbewältigung, zum Umgang mit Alkohol oder schwierigen Emotionen.

Atelier agents de santé

Wirken die GL bei der Erarbeitung der Workshops mit?

Die Workshop-Grundlage wird von der Vereinigung zur Verfügung gestellt. Das gibt den GL Sicherheit, vor allem am Anfang. Beim Austausch während der Workshops können sie sich durchaus einbringen. Zudem holen wir ihre Meinung im Rahmen von Arbeitsgruppen ab, wenn wir neue Themen erarbeiten. Ausserdem drängen wir ihnen kein westlich geprägtes Gesundheitsverständnis auf. Im Ernährungs-Workshop etwa werden die Ernährungsempfehlungen verschiedener Länder verwendet, um Parallelen zu hiesigen Essensgewohnheiten zu ziehen. Im Bewegungs-Modul schauen wir auch Sportarten an, die bei uns weniger bekannt sind, wie zum Beispiel Cricket.

Und wie sorgen Sie dafür, dass die Zielgruppe den Weg in die Workshops findet?

Wir erleichtern den Zugang auf mehreren Ebenen:

  • Erstens bewerben wir die Workshops über Kanäle, die den Zielgruppen vertraut sind, wie etwa WhatsApp oder Partnervereinigungen. Die Anmeldung ist bewusst niederschwellig: Eine WhatsApp-Nachricht genügt.
  • Auch der Ort ist entscheidend: Früher führten wir die Workshops in den Räumlichkeiten von «Agents de Santé» im Stadtzentrum durch. Heute finden sie zu fast 65 Prozent in Räumen statt, die von den jeweiligen Gemeinschaften genutzt werden. Sich an einen unbekannten Ort begeben zu müssen und dort unter lauter Fremden zu sein, kann gerade für die Verletzlichsten eine Hürde sein. Finden die Workshops an einem bereits bekannten Ort statt, nehmen mehr Leute daran teil.
  • Auch die Sprache soll kein Hindernis sein. Wann immer möglich, finden die Workshops in der Erstsprache der Teilnehmenden statt. Und die Kursunterlagen enthalten viele Bilder. Das erleichtert das Verständnis enorm. So erhalten auch Menschen, die unser Alphabet nicht beherrschen, Zugang zur Information.
  • Es ist für uns schwierig, die Begünstigten über einen längeren Zeitraum zu erreichen. Daher bieten wir die Workshops als kurze, zyklische Einheiten an. So können die Begünstigten in kurzer Zeit einen ganzen Zyklus zu verschiedenen Themen zu besuchen.

Und wie geht es weiter?

Derzeit laufen gleich mehrere Projekte, etwa für ältere, alleinstehende Menschen oder Eltern mit Kleinkindern. Ausserdem befassen wir uns mit Themen wie Schlaf, Tabakkonsum und psychische Gesundheit. Die Strategie 2025–2027 sieht vor, das Konzept auf andere Kantone auszuweiten und die Ausbildung zur Gesundheitslotsin oder zum Gesundheitslotsen akkreditieren zu lassen. Wir haben noch viel vor!

Weitere Beiträge